Volles Haus in der Bahnhofsgaststätte hatte die Heidelberger SPD gestern bei einer von MdB Lothar Binding einberufenen öffentlichen Diskussionsveranstaltung zum künftigen Einsatz der Bundeswehr an diversen Plätzen an der Sonne -- offenbar waren die GenossInnen nicht durch den etwa zu der Zeit vorbeifahrenden Castor nach Gorleben verhindert, und auch die mit den letzten News vom erneuten Flugzeugabsturz "nicht unweit" (Außenminister Fischer vor den UN) von Manhattan lockende Glotze konnte mit MdB samt Landtagsabgeordneten Claus Wichmann (der natürlich zu spät kam) nicht konkurrieren.
Binding gelang es anfangs, ehrlich interessiert an den Ansichten des Publikums zur Entscheidung am Donnerstag zu wirken und verlas Teile des dann abzustimmenden Antrags, der den Bundeskanzler "ermächtigen" (sic!) soll, für ein Jahr lang bis zu 3900 SoldatInnen auf die arabische Halbinsel, nach Mittel- und Zentralasien oder Nordostafrika sowie die angrenzenden Seegebiete zu schicken, wie es ihm gefällt. Im Laufe der Zeit wurde aber allerdings immer klarer, dass Binding dem Kanzler die Gefolgschaft nicht verweigern wird und eher nach Unterstützung für diese Entscheidung als nach Hilfe bei der Entscheidungsfindung suchte. Dementsprechend versuchte er recht bald, den anwesenden Genossen und Nichtgenossinnen den Krieg schmackhaft zu machen, etwa mit dem Argument, eine Mitwirkung bei den Militäraktionen könnte "uns" ein Mitbestimmungsrecht im weiteren Verlauf der Geschichte verschaffen. Richtig überzeugen konnte das natürlich niemanden.
Bodentruppen und Luftangriffe, so Binding weiter, seien aufgrund der expliziten Auflistung der einzusetzenden Truppenteile im Ermächtigungsantrag ausgeschlossen, die Rede sei eben von ABC- und Sanitätstrupps sowie Seestreitkräften. Die 100 angeforderten Jungs der Rambo-Truppe Kommando Spezialkräfte haben in diesem Szenario allerdings ein echtes Arbeitsplatzproblem. Die Vermutung, sie sollten dann eben doch Kommandoaktionen auf feindlichem Boden durchführen, konnte Binding nicht entkräften. Er sehe die halt eher als so eine Art Polizeieinheit nach dem Vorbild der GSG 9 in Mogadischu, und damit seis ja auch gut.
Binding hatte einen Experten mitgebracht, Markus Böckenförde vom MPI für Völkerrecht, der allerdings eher als Privatmensch und Aktiver einiger in Afghanistan arbeitender Hilfsorganisationen redete. Er war der erste an diesem Abend, der auf das Fehlen eines Sicherheitsratsbeschlusses zum Angriff auf Afghanistan hinwies -- später bewies ein anwesender Reserveoffizier und Völkerrechtler weit schlüssiger nach, dass es sich beim geplanten Einsatz zweifelsfrei um einen nach dem Grundgesetz verbotenen Angriffskrieg handele. Binding vermochte das nicht anzufechten, denn immerhin gehe es ja um seine Zwickmühle (und offenbar nicht ums Völkerrecht).
Böckenförde allerdings hatte eigene Theorien, warum sich die USA nicht um einen Freibrief des Sicherheitsrats bemüht haben: Seine Einlassung war, die USA wollten vermeiden, bei künftigen Anschlägen, die ja vielleicht hinter dem Balkan und nicht im Herzen des eigenen Landes stattfinden werden, in uneingeschränkter Solidarität mit, sagen wir, der Ukraine UN-verordnete Maßnahmen mit der US-Armee ausführen zu müssen.
Weiter führte er aus, dass die in imperialen Aktionen in der Region erfahrenen Sowjets und Briten die US-Administration gewarnt hätten, dass in Afghanistan kein Blumentopf zu gewinnen sei. Es reicht in diesem Land ganz offenbar nicht, nur die großen Städte unter Kontrolle zu haben -- das hatte die Sowjetunion nach ein paar Monaten, und damals widerstanden Afghanis selbst ohne die relativ modernen Waffen, die zwischenzeitlich aus Westen wie Osten ins Land geströmt sind, viele Jahre quasi aus eigener Kraft, denn wesentliche Unterstützung aus den USA bekamen sie nach gegenwärtigem Kenntnisstand erst seit Mitte der achtziger Jahre.
Böckenfördes Referat -- sicher der Höhepunkt des Abends -- endete mit einem Überblick über die so genannte Nordallianz. Fazit war hier, dass eine Machtübernahme dieser netten Herren die Lage in Afghanistan im Wesentlichen kaum verbessern würde -- sie waren es, die Kabul nach dem Abzug der Sowjet-Truppen im Streit untereinander in Schutt und Asche legten, und sie sind sich nach wie vor nicht einiger. Nach dem Referat war jedenfalls unklarer denn je, was eigentlich der Feldzug erreichen sollte.
Es schloss sich eine teilweise hitzige Diskussion an, sowohl innerhalb der GenossInnen als auch mit einigen der Menschen, die von der Mahnwache gegen den Krieg (die wie immer Montags um 18 Uhr am Zeitungsleser stattfand und dieses Mal den PDS-MdB Winfried Wolf als Redner zu Gast hatte) zum Bahnhof gepilgert waren, und je klarer wurde, dass die Mehrheit im Raum gegen den Krieg war, desto klarer wurde, dass Binding wild entschlossen war, für den Krieg zu stimmen. Da konnte ein Juso schon fast Sympathiepunkte gewinnen, als er gestand, nicht mehr zu wissen, was er denken solle und zur Klärung beim Landesverband angerufen habe.
Viel wurden an diesem Abend allerlei Artikel aus Grundgesetz und UN-Charta bemüht, hin und wieder gab es wilde Verschwörungstheorien, die teilweise sogar historisch fundiert untermauert wurden, nur gelegentlich wurde auch mal an die Menschlichkeit appelliert. Am Ende rechtfertigte Binding sein Ja zum Krieg unter viel Zwischengerufe damit, dass er lieber nicht abstimmen würde. Nett aber immerhin, dass er sich bemüht hat, den Anschein zu erwecken, als könnte seine Basis die Fraktionsdisziplin besiegen, als bestehe wenigstens eine Chance, dass -- und das wäre doch mal was Neues -- Gewissen über Parteiräson geht.
Doch schließlich bleibt nur, an Madeline Albright zu denken. Sie meinte, gefragt, ob der (nach wie vor nicht erfolgte) Sturz Saddam Husseins die 500000 irakischen Kinder, die mittlerweile wegen des Irak-Embargos gestorben sind, wert sei: "Yes, I believe it is worth it".
Vermutlich werden in diesem Winter Hunderttausende Afghanis an den indirekten Folgen des Krieges sterben. Und wenn der Feldzug denn "Erfolg" hatte und die Fraktionen der Nordallianz ihre Privatkriege unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit weiterführen, dann wird Binding auch sagen müssen: "Ja, ich glaube, sie sind für einen guten Zweck gestorben." Dass der Zweck der Erhalt des Bundestagsmandats war, wird er nicht sagen. Wir alle wünschen ihm dabei ein reines Gewissen.
Nachtrag (16.11.2001): Wer sich ein Bild von der Gewissensnot des Herrn Binding machen will, kann den Antrag der Bundesregierung hier auch nochmal genießen.
Dieser Artikel wurde zitiert am: 17.11.2001