Space war in Sibirien, als es gerade ganz kalt war. Wozu das so führt schreibt er in diesem "Notebook"

In dieser Hütte mitten in der Taiga wurde Wissenschaft gemacht -- auf dem Vordach ist der kleine Spektrograf zu erkennen.


Die Taiga -- gleich vor der Hütte

Durch das Fenster sehe ich plötzlich den Jennissej. Einen völlig zugefrorenen, schneeweißen Fluß habe ich so oft noch nicht betrachtet, und das Fenster der Antonov 2 ist klein und zu diesem Zeitpunkt schon teilweise vereist. Doch ich lasse mir bestätigen, daß ich in der Tat diesen gigantischen Fluß, in der Größenordnung des Amazonas, aber kaum bekannt, 1000 m unter mir habe. Der stählerne, gut 15 m lange Doppeldecker setzt zu einer weiteren Schleife an. Die Ressourcen werden, da knapp, optimal genutzt; und so sind am Tragflächengestänge Schläuche für einen Gasanalysator angebracht, um auch hier oben die CO2-Konzentration zu messen.

Die Passagiere machen den Kurvenflug geduldig mit, obschon es in der Kabine eiskalt ist. Zur Milderung wird durch eine Öffnung unter dem offenen Cockpit durch Motorwärme erhitzte Luft in die Kabine geblasen; wechselseitig hält ein Flugbegleiter unsere Handschuhe in den heißen Luftstrahl. Unten zieht die gigantische Taiga vorbei. Noch weiß ich nicht genau, was mich da unten erwartet, aber alle Vorbereitungen sind abgeschlossen, die Nahrungs-Alukiste ist an Bord, und es wird schon irgendwie klappen.

Angefangen hatte alles mit einer Mail im Spätsommer, in welcher Leute für einen Winteraufenthalt in einem kleinen Camp in Sibirien gesucht worden waren. Spontan hatte ich mich gemeldet, so etwas hatte mich schon immer fasziniert, und peu à peu waren auf meine Anfrage hin die weiteren Informationen hereingekommen. Es ging um die Betreuung und Wartung eines Experimentes des MPI für Biogeochemie in Jena zur Messung des CO2-Flusses. Die sibirische Taiga mit ihren weiten Wäldern ist ein Kandidat für die Aufnahme des Klimagases.

Die Reisevorbereitungen hatten mit teils unnötiger Hektik begonnen. Erst in der Vorweihnachtswoche hatte ich endlich aus Jena gehört, mein Visum läge in Frankfurt zur Abholung bereit. Allerdings befindet sich dort kein russisches Konsulat. Starten sollte ich am 28.12., die Zeit war also knapp geworden. Auf erneutes Anfragen hatte ich endlich erfahren, daß solche Angelegenheiten nur mit Berlin abgewickelt werden. Und so war ich denn am Freitag zur Post gehastet und hatte mit Expreßpost meinen Paß nebst Antragsformular nach Berlin aufgegeben.

Immerhin war das Paket mit der restlichen benötigten Kaltwetterkleidung, der Taschenlampe und weiterer Ausrüstung rechtzeitig bei meinen Eltern in Frankfurt eingetroffen, wo schon der dicke Seesack mit der ersten Fuhre gelagert war: Spezialunterwäsche; ein Sortiment von "Fleece"-Kleidung; Überjacken, eine dicke, gefütterte Latzhose; Sturmhaube, Sturmbrille und Atemmaske, um das Gesicht zu schützen; voluminöse Stiefel mit dicken Schichten Isoliermaterial; Energieriegel, Getränkepulver, Diodentaschenlampe und weitere Gegenstände vervollständigen diesen Teil meiner Ausrüstung.

Am Donnerstag nach Weihnachten, 2 Stunden vor dem Einchecken, war dann endlich der Paß eingetroffen, bei dessen Kontrolle ich dann noch mal eben festgestellt hatte, daß aufgrund irgendeines Versehens das Visum eine Woche zu früh ablaufen würde, so daß wir gerade noch rechtzeitig die Rückflugtickets hatten umbuchen können - deutsch-russische Beziehungen hin, Weihnachten in Moskau her, ein Aufenthalt in Rußland mit abgelaufenem Visum kann nach wie vor Probleme generieren. Mit dem Gepäck war es dann zum Flughafen gegangen, um den Acht-Stunden-Flug über Moskau nach Krasnojarsk anzutreten - eine Millionenstadt mit Universität, kaum bekannt, aber die Hauptstadt einer Region mehrmals so groß wie die Fläche der Bundesrepublik, regiert von General Lebed.

Dort angekommen, klappt alles wie am Schnürchen. Olga, die russische Betreuerin des Projektes, holt mich ab, und wir fahren ins Institut für Forstwissenschaft der russischen Akademie der Wissenschaften, wo ich mich in der Küche bei einer frugalen Mahlzeit mit Olga und ihrer Kollegin Galina über das Experiment unterhalte. Auch über mein eigenes: Ich habe einen gerade erst beschafften kleinen Spektrographen meiner Arbeitsgruppe dabei, dessen ungetesteten Einsatz mein Professor erst kurz vor Toresschluß dank der Fürsprache meines Chefs gestattet hatte. Damit will ich in der extrem sauberen Luft der Taiga stratosphärische Gase messen, die in der Ozonchemie eine Rolle spielen, und ferner Polarisationseffekte der Lichtstreuung untersuchen. Mein zur Steuerung des Gerätes notwendiges Notebook war, wie könnte es anders sein, ebenfalls trotz rechtzeitiger Bestellung erst Mitte der Vorweihnachtswoche eingetroffen, und in fieberhafter Hast hatte ich Treiber und Steuersoftware installiert und das System mit Hilfe des Programmierers getestet. Aber nun ist alles wohlverstaut in meiner Notebooktasche.

Im Institut erhalte ich ein Gästezimmer, um noch ein wenig zu schlafen, dann geht es mit einer kleinen Reisegesellschaft, (zwei private Reisende, und Danil, ein russischer Doktorand, der die Luftmessungen durchführt) mitsamt allen Kisten und Koffern in einem Kleinbus hinaus in die sibirische Weite, Richtung Jenisseisk, der nächsten Reisestation. Rasch sind die Betonburgen Krasnojarsks hinter uns, und es dunkelt. Schweigend fahren wir, die meisten schlafen oder dösen ein wenig. Auf halber Strecke, für mich unvermittelt, ein Halt. In einer offenbar mit hohem Energieeinsatz gewärmten Gastsstätte gibt es eine warme Mahlzeit und Tee - viel Tee werde ich trinken. Mit meinem Reservevorrat an Earl Grey im Koffer komme ich mir ein wenig vor, als trüge ich die sprichwörtlichen Eulen nach Athen. Nach insgesamt sechs Stunden rascher Fahrt über die gut geräumte Straße, vorbei an endlosem, tief verschneitem Wald, gelegentlich mit einer Ortschaft oder einem Gehöft darin, erreichen wir Jennisseisk, und "the most bad hotel - but warm, I hope" (O-Ton Danil) ist in der Tat warm, das ist auch gut so, denn die Außentemperatur von -23° gibt mir einen Vorgeschmack auf das, was mir in dieser Richtung bevorsteht. Beim stundenlangen Sitzen im engen Bus ist der Blutkreislauf nicht eben auf Hochtouren, und auf den paar Metern zum Hoteleingang beißt der Frost durch meine Handschuhe, als seien diese gar nicht vorhanden. Das kann ja heiter werden, denke ich mir, aber ein Rückzieher ist keine Option. Da bin ich etwas altmodisch. Es geht schon auf elf, und so unterhalten Danil und ich uns noch ein wenig, essen noch ein paar Kekse aus Galinas Reisevorratspaket (die Coke ist noch nicht völlig aufgetaut) und gehen dann schlafen.

Morgens, gegen halb zehn, bringt uns der Kleinbus zum Flughafen. Insgesamt 12 Antonov 2 zähle ich, die meisten von der lokalen Fluggesellschaft, einige von der Aeroflot, weiter hinten stehen auch schwerere zweimotorige Maschinen. Die Doppeldecker mögen etwas anachronistisch wirken, und doch ist er mit seinen Schneekufen für diese Gegend gut geeignet, und wirkt in seiner unlackierten Robustheit vertrauenerweckend. Die Crew überprüft die Maschine, während Danij seine Gasschläuche anbringt, durch ein Loch in der Außenhülle ins Kabineninnere führt und mit dem Gasanalysator in der Aluminiumkiste verbindet, die wir bereits hineingeschafft haben. Das Gepäck wird teils unter den einfachen Klappsitzen verstaut, teils im hinteren Kabinenteil gelagert und ein wenig vertäut. Der Start verzögert sich etwas, da die vordere Backbordkufe festgefroren und auch durch wuchtige Vorschlaghammerhiebe nicht freizubekommen ist. Wir steigen darum aus, und drücken rhythmisch gegen die Tragfläche, bis sich die Maschine mit einem Ruck löst. Der Pilot dreht eine Runde auf dem Flugfeld, wir klettern durch den beißenden Wind des Rotors wieder in die Kabine, und los geht's. Stahlseile unter der Kabinendecke geben Halt. Weitere, straffere, Drähte entpuppen sich als die des Leitwerkes. Nach einigen hundert Metern Beschleunigung sind wir in der Luft, das Flugzeug erreicht etwa 300 km/h.


Eine Straße in Zotino, dem Dorf mit dem Flugplatz

Nach ca. zweieinhalb Stunden Flugzeit landen wir in Zotino. Ein völlig eingeschneites Dorf, mitten in der Taiga, auf 60.5° N, 89.5° O; vielleicht 300 Einwohner leben hier, aber es gibt eine Straßenbeleuchtung, stabile Stromversorgung und eben einen Flughafen - ein weites Feld, und eine Konstruktion aus dicken Kiefernstämmen, welche eine Sammlung aus Satelliten- und Funkantennen trägt. Wir steigen aus und laden die Sachen ab. Nach einigen Minuten kommt das schwere sechsrädrige Fahrzeug. Der Fahrer steigt aus - und weist mich an, sofort in die "Kabina" zu steigen, dabei deutet er auf meine Nase. Ich spüre nichts an meiner Nase - genau das ist das Problem, sie ist gefroren. In der Wärme der Kabine meldet sie sich wieder. Die anderen Passagiere werden von anderen Leuten im Dorf abgeholt. Der Fahrer lädt meine Sachen ein, steigt wieder ein, und als wir in das Dorf fahren, stellt er sich als Volodya vor - Waldemar, fügt er die deutsche Version seines Namens hinzu. Damit setzt er die Serie liebenswürdiger Gesten nahtlos fort, welche die Russen mir bislang erwiesen haben, und die mich angenehm überrascht.

Bei Volodyas Heim machen wir Halt, und es gibt erst einmal hausgemachten Schnaps, das wärmt auf, bis Sasha eintrifft. Sasha, der permanent im Camp lebt, weil er im Dorf Eheprobleme hat. Volodyas Kollege, Gosha, fährt uns nach einer halben Stunde los. Die Straße ist breit, völlig mit Schnee bedeckt, aber festgewalztem, und mit zügigen 50-60 km/h kommen wir voran. Sasha ist von Natur aus schweigsam, Georgij konzentriert sich aufs Fahren. Das Fahrzeug ist laut Tachobeschriftung aus der Sowjetzeit, wirkt aber gut gepflegt. Nach ca. 20 km biegen wir in eine engere, holprige Nebenstraße ab, die uns durch den Kiefernwald führt. Plötzlich springt ein Hund vor dem Fahrzeug umher, eine sibirische Promenadenmischung, es ist Sashas, er nennt ihn Karat, und Sekunden später taucht das Camp zwischen den Bäumen auf. Es ist ein aus Kiefernstämmen gefügtes Blockhaus mit einem Holzofen als Wärmequelle. Rauch steigt aus dem Schornstein auf, und Nikolaj tritt heraus, ein russischer WiHi, der bislang das Experiment betreut hat, und schon seit mehreren Wochen mangels westlichen Personals Wache hält. Die Katze Murka komplettiert unsere Equipe. Die Hütte ist niedrig, ich entschieden zu hoch. Sie ist quadratisch, etwa 6 auf 6 Meter. eine Hälfte nimmt der gemeinschaftliche Wohnbereich ein, vorne stehen Kisten und die tragbaren Stromgeneratoren, auf Regalbrettern stehen die Vorräte direkt neben dem Werkzeug und einem Sammelsurium aus Kartons mit CD-Rohlingen, Kabeln, Filtern des Gasanalysators etc. Hinten steht ein Tisch, ebenfalls von Regalbrettern gesäumt. Auf dem Tisch liegen Brot, Butter, Tee, und zwischen Kabeln die Notebooks des Experiments. Die andere Hälfte besteht aus zwei Schlafräumen, einer gehört Sasha, im anderen wird auf der zweiten Holzpritsche Thermofolie ausgelegt, und ich lege meinen Spezialschlafsack darauf. Die allgegenwärtigen Alukisten sind unter die Pritschen geschoben.


Der wichtigste Einrichtungsgegenstand: Ein Backsteinofen

Der Ofen aus Ziegelsteinen ist in der Mitte der Hütte platziert, um all Räume wärmen zu können. Die eiserne Platte dient der Zubereitung der Mahlzeiten, z.B. Reisfleisch, dem Kochen von Tee sowie der Wasserbeschaffung - wir tauen Schnee. Wassermangel werden wir hier folglich nicht erleiden. Die Hüttentür führt nicht direkt nach draußen, obschon sie, von außen mit einem satten Stiefeltritt, fest zu verschließen ist. Ein kleiner, offener Vorbau fungiert als Windfang und beherbergt Brot und Butter sowie weitere Dosen. Ein Kühlschrank erscheint nicht erforderlich. Hinter der Hütte gibt es eine weitere, die als Lager dient für Ersatzteile, Schneeschuhe, Ski und anderes. Etwa 30 Schritt entfernt steht eine Sauna. Die Sanitäranlage ist weiter entfernt.

Nikolaj und ich unterhalten uns ein wenig, dann hilft er mir, das Satellitentelephon aufzustellen und zu Hause anzurufen - die Reise hat länger gedauert, als ich gedacht hatte. Wir werden uns viel unterhalten, über Spektroskopie, Physik, die Taiga und vieles mehr. Durch Radiohören hat er sich ei recht passables Englisch angeeignet, ich helfe ihm nun in Grammatik und Vokabular etwas nach. Er möchte viel wissen, fragt viel. Allmählich ödet ihn die Tätigkeit am Meßturm an. Er plant, Touristen durch Sibirien zu führen, mit ihnen zu fischen und zu wandern. Sasha scheint hier draußen recht zufrieden zu sein. Unsere Gespräche kommentiert er mit trockenen, aber, laut Nikolaij, freundlichen Bemerkungen.

Nach dem Telephonat ziehen wir erstmals los zum berühmten Turm, einer 32 Meter hohen Aluminiumkonstruktion, an welcher die Ansaugschläuche und die Meßgeräte befestigt sind. Etwa 1.2 km steht er entfernt, mitten im Wald. Der Marsch durch den uneben Kiefernwald wird nun unser täglich Brot werden. Die Spur im Schnee ist leicht zu sehen, verirren kann man sich nicht, und mit Tauwetter ist bei bereits -40° nur bedingt zu rechnen. Der Generator nebst Akkus und Solarpaneelen ist weitere 100 m entfernt in Windrichtung positioniert. Er steht nebst einer Reihe von Akkumulatoren und dem Wechselrichter in einem aus Kiefernstämmen und Plastikfolie als Schutz gegen Schnee und Wind konstruierten Unterstand, der auf einer Seite von in dieser Umgebung merkwürdig anmutenden Solarpaneelen begrenzt ist. Das Kontrollieren und Aufrechterhalten der Energieversorgung wird unsere wichtigste Aufgabe sein. Der Turm steht etwa 100 m weit weg. Derzeit läuft das Experiment nicht, ein Dateninterface hat sich offenbar verabschiedet, das Ersatzteil habe ich in Krasnojarsk mitbekommen. Zumindest besteht Hoffnung, daß es das Interface ist; wenn das Ersatzgerät auch nicht arbeiten kann, hieße das ein Defekt am Windmeßgerät oder ein Schaden am Kabel - in dieser Jahreszeit praktisch nicht reparabel. Am Sylvestertag bauen wir das Gerät ein. Es funktioniert, und das Notebook auch - bevor nach 5 Minuten das Display tot ist - es kann bei -40°C nicht anzeigen. Eine Kalibration kommt bei der Temperatur ebenfalls nicht in Frage, und um unnötigen Energieverbrauch zu vermeiden, bauen wir Interface und Computer wieder aus - eine scheußliche Arbeit. Die Geräte sind zwar in dicke Styroporschichten gepackt, aber eiskalt sind sie dennoch, und im kleinen Aluminiumschrank herrscht drangvolle Enge, in die wir ohne Handschuhe die Schläuche und Kabel hineinzwängen müssen, ohne die in der Kälte fragil gewordenen Drähte zu zerbrechen. Endlich ist es geschafft, und wir machen uns auf den Heimweg.

Dort hat Sasha die Sauna angeworfen - wir sollen doch sauber ins neue Jahr gehen. Trotz der klirrenden Kälte ist es in der Sauna ca. 60° heiß, als wir nacheinander hineingehen und uns waschen. Danach gibt es Videoabend - Wild Wild West auf russisch, ich kenne den Film gottlob schon, und die teils etwas platten Witze bleiben mir so erspart. Um Mitternacht stehen wir auf, und stoßen mit Schnaps auf das neue Jahr an, dazu gibt's Pralinen.

Das neue Jahrtausend begrüßt uns frostig. Es setzt eine Kältewelle mit Temperaturen von im Schnitt -50° ein, die zehn Tage lang anhalten wird. Bis auf -55° wird das Thermometer absinken. Als die Quecksilbersäule die -50°-Marke erreicht, jubeln Nikolaj und ich kurz los - wir empfinden einen perversen Stolz, das jetzt durchzustehen. Die Geräte des CO2-Experimentes sind weniger begeistert, nach und nach steigen sie aus. Olaf Kolle vom MPI meint, das sei normal, die Geräte würden sich bei wärmeren Temperaturen schon wieder melden. Nikolaij und ich sind skeptisch. Wir können bis auf weiteres nichts anderes tun, als die Energieversorgung aufrechtzuerhalten, und täglich Spannungen und Kontakte zu messen, jeweils bis das Multimeterdisplay ebenfalls streikt.

Inzwischen habe ich nebenher mein Experiment aufgebaut. Der Miniaturspektrograph steckt jetzt in einer Verpackung aus Isoliermaterial, um Temperaturschwankungen abzumildern, und ist auf einer Stahlplatte befestigt. Ein kleines Teleskop, das in den Zenit gerichtet wird, fängt Streulicht der Sonne ein und leitet es über eine Glasfaser in das Gerät. Eine Plastiktüte schützt den einfachen Aufbau gegen Wind und Schnee. Nikolaij und Sasha nehmen regen Anteil. Zwei Schraubzwingen halten den Apparat auf dem Vordach fest. Das sog. USB-Kabel verbindet durch ein Loch in der Sumpfgrasisolierung der Hüttenwand das Gerät mit meinem Notebook. Die beiden ungetestete Geräte arbeiten auf Anhieb gut zusammen, der Elektronik scheint der Frost nichts anhaben zu können. So stehe ich nun jeden Morgen als erster auf, was sich als unerfreulich erweist, denn morgens ist es in der Hütte bis -30° unter Null, starte das Notebook und messe den Sonnenaufgang hindurch. Nach Sonnenaufgang befeuert Sasha den Ofen. Dieser vermag der Temperatur etwas anzuheben, aber nur in seiner unmittelbaren Nähe liegt sie über dem Gefrierpunkt. Ein unbedacht in Fensternähe gestellter Tee ist nach wenigen Minuten eiskalt. Ähnliches gilt für die Generatoren. Diese lassen sich, unterhalb von -40°, nach kurzer Zeit Stillstand im Freien nicht mehr starten, so daß Nikolaij und ich jeden Tag einen laufenden Generator auf einen Schlitten laden und denjenigen am Turm ersetzen müssen, um diesen, wieder heimgebracht, aufzutauen und aufzutanken.

Der 6.1. hält eine kulinarische Überraschung bereit: Sasha ist es vor meiner Ankunft gelungen, mit seiner Schrotflinte einen Bären zu erlegen. Ein mächtiger Schinken hängt nun in der Hütte, von welchem er großzügige Stücke herunterschneidet, kocht, über Nacht stehen lässt und uns bei Kerzenlicht in Sojasauce serviert. Es schmeckt köstlich. Davon gibt es jetzt jeden Abend etwas, bis nach einer Woche der große Schinken verzehrt ist. Am 7.1. sende ich auf russisch einen Weihnachtsgruß an verschiedene Freunde und Bekannte. Nur einer gelingt die Dechiffrierung - nach nicht einmal einer Minute, sie antwortet, während wir noch online sind.

Der Emailempfang ist ein wichtiger Fixpunkt in unserem täglichen Leben. Immer um Mitternacht, wenn in Europa (wir beide haben Bekannte dort) 18.00 ist, stellen wir die Antenne auf das Vordach, neben meine Apparatur, und führen das Kabel durch die Wand. Das Telephon holt Nikolaij aus der Tasche neben dem Ofen, und schließt es an. Derweil starte ich das Notebook und das Emailprogramm, und, uns gegenseitig Statusmeldungen vom Display vermeldend, stellen wir die Telephonverbindung zum Rechner des MPI her. Das Herunterladen und Senden ist ein Va Banque-Spiel, nach wenigen Minuten ist die Antenne so stark ausgekühlt, daß sie die Verbindung zusammenbrechen läßt, und sie hereingeholt und über dem Ofen wieder aufgewärmt werden muß. Auf dem Höhepunkt der Kältewelle steht auch dieser Kommunikationsweg unter dem Damoklesschwert: Der Telephonakkumulator ist fast leer. Die Ladevorrichtung ist defekt und in Jena. Zwar können die Batterien theoretisch über das Telephon selbst wieder aufgeladen werden, glaubt man der Anleitung. Ein alter Autoakku lässt sich mit dem Generator aufladen, verbinden wir indes diesen mit dem Telephon, bleibt das ersehnte grüne Licht, welches den Aufladevorgang verkündet, beharrlich dunkel. Wir sind in keiner Weise in Gefahr; Nahrungsmittel, Holz und Sprit für den Generator sind ausreichend vorhanden, und bei den Tiefsttemperaturen (die in Europa in den Nachrichten Furore machen) kann die AN 2 ohnehin nicht landen, um Proviant oder Ersatzteile einzufliegen. Dennoch ist Nikolaij und mir die Aussicht, völlig ohne Kommunikation hier in der Wildnis zu sitzen, etwas unbehaglich. Beim Durchmessen der Anschlußkabel stellen wir mehrere Wackelkontakte und Spannungsverluste fest. Erst unter drastischer Verkürzung des Kabelweges und durch Herauswerfen der Sicherung gelingt uns das Aufladen der Telephonakkus.

Die Energiesituation in meinem Notebooks hatte sich ebenfalls zugespitzt; Die Ausgangsspannung des Generators ist nicht völlig stabil, und am Neujahrstag hat er einen Spannungsburst produziert, der in dem Plastikgehäuse ein deutlich vernehmbares Sylvesterfeuerwerk aus Funken initiiert hatte. Die Annahme, dies Netzteil sei endgültig im Eimer, ist mehr als zulässig und wird durch das Meßinstrument bestätigt. Doch mittels eines ähnlichen Verfahrens wie im Falle des Telephons kann ich über einen für solche Fälle mitgebrachten Autoadapter aufladen, und so meine Messungen retten. Mein Notebook hat bereits äußerlich etwas Patina, nun, es ist ja auch eine etwas harte Generalprobe, die ich ihm da zumute.

Der Winter hat die Landschaft draußen in einen Märchenwald verwandelt. Einige Photos sind bereits gemacht, leider friert meine alte Nikon in kürzester Zeit ein, und muß ebenfalls am Holzofen wieder erwärmt werden. Eine der eindrucksvollsten Sehenswürdigkeiten der Taiga ist ihr Himmel. Sonnenauf- und Untergang dauern länger als in Heidelberg, und die reine Luft erlaubt klare Farben zwischen den schneebedeckten Baumkronen. Die Luft ist so klar, daß des Nachts Sterne aller Klassen zu sehen sind. Gewaltig hängt Orion über dem Horizont. Das Licht des Mondes ist so hell, daß man auch nachts, ohne Brille und ohne Taschenlampe, unzweideutig die Spuren im Schnee ausmachen kann.


Sonnenuntergang über dem nahen Moor

Es herrscht völlige Ruhe. Die Fauna ist nicht sehr aktiv. Im Schnee sind hier und dort einige Kaninchen- oder Fuchsspuren zu sehen, auch eine Elster fliegt gelegentlich auf, und gelegentlich fallen Löcher von Mäusen auf, die sich unter dem Schnee ihr Nest eingerichtet haben. Auf dem Höhepunkt des Experimentes liefen drei Türme in unterschiedlichen Waldgebieten. Die nächste war auf der nahegelegenen Moorfläche errichtet worden, ist jetzt aber auseinandergenommen, die Teile lagern in Jena. An zwei Tagen macht Nikolaij mit mir einen Ausflug aufs Moor. Von Baba Jaga reden wir, der Hexe der russischen Märchen, und vom Tunguska-Meteor, der 100 km von hier heruntergekommen und explodiert ist. Sibirien habe Europa gerettet, meint Nikolaij, ein Treffer in Mitteleuropa wäre unerfreulich gewesen, aber Sibirien sei so riesig, daß kein Schaden angerichtet worden sei: "Bumm - no problem."

Der erste Trip führt uns zur Meßstation, die als Bretterskelett im Moor steht. Wir beobachten den Sonnenuntergang zwischen den vereinzelten Krüppelbirken; die Szenerie wirkt etwas gespenstisch, ist aber faszinierend schön, Nikolaij meint, wie auf einem fremden Planeten. Als Freizeitlektüre habe ich mir einen Science-Fiction-Roman über eine Maersexpedition nach Sibirien mitgebracht. Ich fühle mich an die marsianischen Polkappen erinnert, und an den dortigen Sonnenuntergang. Natürlich fehlen dort die Bäume. Völlig still ist es auch hier.

Den zweiten Ausflug unternehmen wir abends, so daß wir in tiefer Nacht auf unseren Schneeschuhen durchs Moor wandern. Die Meßstation hinter uns lassend, stapfen wir weiter. Bei einem toten Gehölz machen wir Rast, und genießen die Ruhe. Auf dem Rückweg schickt Nikolaij mich voran, und in der Tat ohne Schwierigkeiten kann ich den Weg bis nach Hause finden. Zum Bärenfleisch bei Kerzenschein. Karat ernährt sich von Fleischresten. Sein dickes Fell erlaubt ihm, draußen zu schlafen; morgens beim Entfernen der Abdeckung des Teleskopes liegt er neben den Holzscheiten, obschon er auch im Vorraum nächtigen könnte. Manchmal springt er an mir hoch und möchte ein wenig herumtoben. Murka, die Katze, verbringt die Zeit notgedrungen im Haus. Sie turnt viel herum, um sich Bewegung zu verschaffen, und benutzt die restliche Belegschaft der Hütte als Klettergerüst. Viertelstundenlang kann sie auf meiner Schulter verharren und die Aussicht genießen, so daß ich noch gebückter gehen muß, als ohnehin schon. Auch sie spielt gern, jedoch ist sie wärmebedürftiger, was dazu führt, daß Sasha sie eines Morgens im Ofen vorfindet, den er gerade mit Holzscheiten füllen will.

In der letzten Woche beginnt die Temperatur plötzlich rasch zu steigen, und erreicht am letzten Wochenende meines Aufenthaltes bis -15°C - es ist draußen jetzt wärmer als drinnen während der kalten Phase. Nach und nach melden sich die Geräte wieder, erst der Wechselrichter, dann der Rest. Selbst die Generatoren lassen sich wieder anwerfen. Es ziehen indes auch Wolken auf, die klare Zeit ist vorbei.


-50° Celsius

Dienstag, der letzte Tag meines Aufenthaltes, ist plötzlich da. Mein Instrument ist wieder in der Tasche. Nikolaij und ich bringen drei Gasschläuche am Turm an, die irgendwer im vergangenen Herbst nur mit Klebeband befestigt hatte, und die kurz nach dem Jahreswechsel heruntergekommen waren. Zum letzten Mal sehen wir nach Generator und Solarflächen. Gegen Abend kommt Volodya mit dem Fahrzeug. Er bringt die Schuldirektorin mit, die mich mit "Schönen Abend" begrüßt. Sie möchte ihre Kinder in Kiew anrufen, und wir haben im Umkreis das einzige Telephon. Allerdings hat sie eine falsche Vorwahl aufgeschrieben, die richtige erfahre ich von meinem etwas überraschten Vater in Frankfurt, den ich bitte, die Auskunft anzurufen. Nach dem erfolgreichen Gespräch verladen wir mein Gepäck, und ich nehme Abschied von Nikolaij; Sasha kommt noch mit ins Dorf, um Olga und Olaf in Empfang zu nehmen, die mit der AN 2 erwartet werden. Rasant geht es zurück über die Straße. Sasha übernachtet bei seiner Ex, ich bei Volodya.

Am nächsten Morgen ein kleiner Schreck vor Toresschluß: Der Wind hat aufgefrischt, die leichte Maschine kann nicht landen. Einen Tag verbringe ich bei Volodya, lese ein wenig, und mache mit seiner Tochter Vera Potenz- und Bruchrechnung. Die Lage ist nicht kritisch, der Rückflug nach Frankfurt ist für den 19.1. gebucht, mein Visum reicht bis zum 20.1., aber niemand kann sagen, wann der Wind wieder abflaut. Doch am nächsten Tag steht der Doppeldecker schon auf dem Flugfeld, als Volodya und ich dort ankommen, und Danij bringt wieder die Einsaugschläuche an. Kurz vor dem Start kommen Olga und Olaf aus dem Dorf zurück, man hat ihnen wohl gesagt, daß ich jetzt auf dem Flugfeld bin. Ich freue mich, sie noch getroffen zu haben. Die Freude steigert sich noch, als sie mir meinen mitgebrachten Paß übergeben, den ich aus anmeldungstechnischen Gründen in Krasnojarsk hatte lassen müssen, und ohne den eine Ausreise sich evtl. kompliziert gestaltet hätte.

Dieses Mal startet die Maschine ohne Probleme. Auch der Rest der Rückreise verläuft unspektakulär, wohl organisiert und recht flott. Im Kleinbus geben mir Danij und die wieder mit uns zurückgeflogenen Passagiere eine Kostprobe der russischen Sangesfreudigkeit, ich trage einige Frank-Sinatra- und Monty-Python-Lieder bei, mein Repertoire ist beschränkt.

Meine letzte Nacht in Rußland verbringe ich im Gästezimmer, früh am Morgen startet mein Rückflug nach Frankfurt. Der Flug Moskau-Frankfurt verzögert sich - ein Streik verhindert die Kerosinlieferung. Ich treffe Andre und Julia, die in Moskau Urlaub gemacht haben, und die sich ebenfalls meinen Spektroskopievortrag anhören. Die Gastronomie der Fluglinie ist überraschend gut, wie ich bereits auf dem Hinflug festgestellt hatte. Als ich am Flughafen meine Eltern treffe, bin ich froh und erleichtert. Nichts ist gestohlen worden, meine Messungen haben funktioniert, ich habe meine Job getan. Ich möchte wieder hinfliegen. Mit mehr Spektrographen.